Frau Dr. Henke, auf Grund der aktuellen Lage müssen wir dieses Interview auf digitalem Wege durchführen. Wo erreiche ich Sie gerade? Im Homeoffice?
Sie erreichen mich im Home-Office, inmitten vieler Telefon- und Videokonferenzen. Natürlich bin ich auch bei der Konzeptarbeit, denn die Strategieentwicklung läuft in vielen Unternehmen weiter.
Welche Emotionen lassen sich bei Arbeitnehmern in dieser unruhigen Zeit beobachten?
In dieser Krise lassen sich alle Arten von Emotionen in deutlich verstärktem Maß beobachten. Eine beherrschende Emotion ist naturgemäß die Angst, denn dafür gibt es viele Auslöser. Da ist primär die Angst um die eigene Gesundheit. Auch das mentale Wohlbefinden ist in Gefahr. Das merken viele Menschen durch die erzwungene soziale Distanz und Isolation. Weiter sind viele Menschen durch den zum Teil massiven Verlust von Umsätzen und Vermögen von der wirtschaftlichen Situation beunruhigt. Darüber hinaus haben wir eine Umfeld- oder Systemkrise. Zuallererst stellt sich die Frage, ob das Gesundheitssystem den aktuellen Anforderungen gerecht werden kann. Auch die Klimakrise ist nicht plötzlich verschwunden, sondern nur in den Hintergrund gerückt. Akut sind momentan wie gesagt insbesondere allerdings die Angst um die Gesundheit und die Angst um die Zukunft.
Welche Auswirkungen haben diese Emotionen auf das Tagesgeschäft im Unternehmen und wie lassen sich diese bekämpfen?
Die Krise bindet Energie. Es kommt zu einem Absinken der Produktivität denn die Menschen sind mehr mit sich selbst und ihren Ängsten beschäftigt als mit der Arbeit.
Natürlich kommt es auch zu kompensatorischen Mustern, um den Ängsten auszuweichen. Ein solches Muster ist z.B. mehr zu arbeiten. Das ist gerade bei Managern häufig zu beobachten. Andere Menschen lenken sich von der Arbeit ab, etwa indem sie die Nachrichten noch intensiver verfolgen. Das kann bis hin zur Paralyse führen. Wer wie reagiert, ist eine ganz individuelle Angelegenheit. Führungskräfte sollten solche kompensatorischen Muster oder Stressreaktionen erkennen, um Mitarbeitern adäquate Unterstützung anzubieten. Wer zum Beispiel in die Arbeit flüchtet, den sollte man zu Ruhepausen anleiten. Wer sich ablenkt, braucht klare Strukturen. Wer zu Paralyse neigt, braucht Sicherheit und Orientierung. Sicherheit entsteht beispielsweise durch ein offenes Gespräch, konstruktive Lösungsvorschläge und etwas Aufmunterung. Das tut im Übrigen allen gut.
Auch materielle Hilfen dienen der Sicherheit da sie direkt wirtschaftliche Ängste reduzieren. So stocken etliche Unternehmen das Kurzarbeiter Geld auf 80 oder 100% auf.
Aus Perspektive des gesamten Unternehmens ist eine Orientierung wichtig. Insbesondere sollten die Strategien für die Zeit nach der Krise deutlich erkennbar sein. Die Führungskräfte müssen zeigen, dass das Schiff gesteuert wird, denn das vermittelt die Ruhe und Zuversicht, die die Menschen jetzt suchen.
Dazu gehört eine umfassende Kommunikation. Eine solche Kommunikation lässt sich auch auf digitalen Wegen umsetzen und wird von dem Mitarbeitenden in der Regel gut angenommen. Das sehe ich in meiner täglichen Arbeit mit vielen unterschiedlichen Organisationen.
Wie definieren Sie emotionale Intelligenz und wieso ist diese vor allem in der heutigen Zeit von wert?
Emotionale Intelligenz ist die Fähigkeit, Emotionen zu fühlen, adäquat zu reagieren und andere Menschen dabei zu unterstützen. Emotionen haben im Business einen schlechten Ruf. Im Kern sind sie jedoch eine Überlebenshilfe, denn sie überbringen uns wertvolle Botschaften. Unser Gehirn sendet noch immer die Impulse, die uns damals vor dem Säbelzahntiger weglaufen ließen. Heute ist der Mensch viel stärker gefordert, Impulskontrolle auszuüben und entsprechend zu reagieren. Im Angesicht der Coronavirus Krise und der vielen technologischen Veränderungen ist das eine gewaltige Herausforderung, denn Veränderungen führen grundsätzlich zu Verunsicherung. Es ist ein menschliches Phänomen dem Unbekannten aus dem Weg zu gehen. Doch der Unsicherheit und Angst müssen wir uns gerade heute im Business stellen, um Veränderungen strategisch nutzen zu können. Wegschauen und weglaufen helfen nicht.
Beispiele für zu wenig Hinschauen sind der Technologiewandel in der Automobilbranche und die Sättigung der Märkte in China. Der notwendige Wandel beginnt also in der Unternehmensleitung. Also denken Sie immer daran: Eine Emotion ist eine Botschaft, die Ihnen etwas zu sagen hat und einen Platz in der Strategiearbeit verdient.
Gibt es Strategien, die man übergreifend im Unternehmen einführen kann, um besser mit der aktuellen Situation umzugehen?
Hier schließt sich der Kreis: Es geht darum, klare Orientierung zu geben und Führung zu zeigen. Das Führungsteam eines Unternehmens ist die erste Instanz, die sich mit der Angst auseinandersetzen muss. Dann ist es möglich, den Blick in die Zukunft zu richten, Risiken einzuschätzen und Chancen zu nutzen.
Um das zu tun müssen Führungskräfte die eigene Persönlichkeit verstehen und ureigene Stressmuster erkennen. Wie heißt es so treffend: „Legen Sie zuerst selbst die Sauerstoffmaske an, bevor Sie anderen helfen!“. Führungskräfte sind also zuerst in emotionaler Intelligenz gefordert. Erst wenn sie diese verinnerlicht haben, können sie andere beim Umgang mit Emotionen optimal unterstützen. Die positive Entwicklung zieht sich dann wie eine Kaskade durch das gesamte Unternehmen.
Staatliche Eingriffe begrenzen sich meist auf betriebswirtschaftliche Veränderungen. Gibt es darüber hinaus Maßnahmen, die Sie als sinnvoll erachten?
Der Staat greift heute schon durch das Gebot der Sozialen Distanz weit über die Betriebswirtschaft hinaus in das betriebliche Umfeld ein. Das hat es in dieser Form noch nicht gegeben. Die rückläufigen Infektionszahlen zeigen, dass diese Entscheidung richtig und notwendig war. Zugleich ist das ein Eingriff in die Grundrechte, was zur Zeit intensiv debattiert wird.
Zugleich unterstützt der Staat massiv mit finanziellen Hilfen für Unternehmen. Sie sind in großem Maße geflossen und fließen weiter. Hier möchte ich auch einmal eine Lanze für den Staat brechen. Er hat bereits lange vor Corona in Innovation investiert. Das ist aktive Zukunftssicherung für unseren Standort. Viele dieser Fördertöpfe bleiben jedoch unausgeschöpft. Das weist klar darauf hin, dass Chancen seitens der Unternehmen ungenutzt bleiben. Zugleich erleben wir im Moment eine Schockdigitalisierung, die nicht durch Fördertöpfe sondern durch die Krise möglich wurde. Das kann nach der Krise für äußerst positive Impulse sorgen.
„Fürchtet Euch nicht“, ist ein Aufhänger Ihres Webinars. Wie lässt sich dieser Satz auf das Business übertragen?
„Fürchtet Euch nicht“ sagt aus, dass die Emotion der Angst eine uralte ist und in unseren Genen verankert ist. In Deutschland gibt es die international bekannte „German Angst“. Das ist ein Grund dafür das Deutschland wachstumsschwach, innovationsschwach und digitalisierungsschwach ist. Wenn es gut geht nutzen wir die Krise, um das zu verändern. Denn hier zulande wird viel geforscht, jedoch zu wenig an den Markt gebracht. In Qualität und in Ingenieurskunst ist Deutschland an vielen Stellen führend. Möglicherweise fehlen Mut und großes Denken, um die nächste Innovation zu realisieren und zu kommerzialisieren. Denken Sie an die Anfänge der Batterietechnologie. Die frühen Erfolge in Deutschland wurden abgebrochen, während Südkorea weiter investiert hat und heute hocherfolgreich ist. Offensichtlich fehlt in Deutschland ein gewisser Führungsanspruch, der in den USA und China deutlich zu erkennen ist.
Angst bringt immer ein Potential für Veränderungen mit sich. Welche Potentiale sehen Sie in der Krise und wie kann man diese nutzen?
Wie bereits gesagt ist Angst ein Botschafter, der zum Handeln auffordert. Insbesondere geht es darum Risiken zu minimieren und Chancen zu schaffen. So sind Unternehmen jetzt in der Krise gefordert wertvolle Fachkräfte zu halten, um danach kraftvoll neu durchzustarten. Die Krise bietet auch die Zeit mögliche strategische Defizite aufzuarbeiten, um langfristige Perspektiven zu schaffen. Die Grundhaltung sollte sich darauf ausrichten die Möglichkeiten in der Disruption aufzutun. Basis für Wachstum in der Krise und danach sind die einzigartigen Stärken des Unternehmens die heute oft schlecht beschrieben sind. Unternehmen sollten herausfinden welche Potenziale im bestehenden Geschäft ausgeschöpft werden können. Aufbauend geht es um Innovation in Produkten, Services und Geschäftsmodellen. In einem weiteren Schritt sollten die Führungskräfte in den Unternehmen das Erobern neuer Geschäftsfelder angehen. Dabei helfen Trends, die enorme Wachstumschancen bieten. Gerade die Zukunftsforscher liefern dafür wichtige Informationen und Impulse. Beispiele für Zukunftsfelder sind: Gesundheit – die Wohlhabenden gesund erhalten und den wenig Wohlhabenden Zugang zu Gesundheitsdiensten sichern. Umwelt – Kreislaufwirtschaft, weit über Recycling hinaus, Entwicklung des Humankapitals – Wissensarbeiter in Unternehmen produktiv einsetzen und kritische Kompetenzen entwickeln. Dort liegen aus meiner Sicht reichlich Potentiale für Wachstum, die nur darauf warten erschlossen zu werden. Diese Potentiale bleiben unsichtbar solange man von der Angst paralysiert und nur auf das Bewahren des bestehenden Geschäftes ausgerichtet ist.
„Die Grenzen der Zahlenlogik überwinden“ – Dieses Zitat von Ihnen ist in der heutigen Zeit passender denn je. Können Sie die Aussage erläutern?
Manager sind heute auf Zahlen, Daten und Fakten trainiert und fokussiert. Das ist gut und richtig, denn die Zahlen müssen stimmen. Manager fragen sich jedoch zu selten, wie die Zahlen zu Stande kommen. Eine Zahl ist eine Zahl. Doch wie interpretieren wir diese? Zahlen kommen immer zustande durch das Denken und Handeln von Menschen. Um die Zahlen zu verstehen, muss ich also wissen wie Menschen denken und handeln. Das wiederum ist maßgeblich von Emotionen bestimmt. Glücklicherweise gibt es in den Zahlen wie auch im Verhalten Muster, die das Navigieren erleichtern. Ein Muster ist das Verdrängen von Emotionen was enorme Businesspotentiale verschließt und sich an schlechten Zahlen messen lässt. Was wäre ein Elon Musk und Tesla ohne Emotion?
Für die betriebswirtschaftlichen Auswirkungen gibt es viele fundierte Prognosen. Die menschliche Variable wird hierbei jedoch oft nicht beachtet. Können Sie sich hierzu äußern?
Die wirtschaftlichen Prognosen sagen einen dramatischen Einbruch voraus. Die menschliche Prognose muss sich mit der Frage beschäftigen ob, bzw. was wir aus der Krise lernen. Wirtschaft und Gesellschaft werden weiterlaufen. Doch mit welchen Werten und Systemen? Tun wir das miteinander oder gegeneinander. Mit Menschen als Ressource oder Kosten Faktor. Mit der Umwelt als unser „Untertan“ oder unsere Existenzgrundlage. Hier liegen die Schlüssel zu einem tiefgreifenden Paradigmenwandel.
Wenn alles gut läuft, werden wir einen gewaltigen Schub an Kreativität erleben, der alle künstliche Intelligenz in den Schatten stellt. Dann wäre eine zentrale Lektion aus der Krise, dass wir die menschliche Ressource besser, wertschätzender und umfassender nutzen sollten.
Das kann dazu führen das wir im Business, in der Wirtschaft und der Gesellschaft mehr Win-Win-Situationen schaffen, sodass schlussendlich alle von den Veränderungen profitieren.
Das wäre doch eine schöne und machbare Perspektive für die Zeit nach der Krise und für eine bessere Zukunft im Arbeitsalltag und Leben der Menschen.
Frau Dr. Henke, vielen Dank für das Gespräch.
Über die Autorin
Dr. Anja Henke ist Geschäftsführerin der Carpe Viam GmbH in Düsseldorf. Mit ihrem Team berät die Naturwissenschaftlerin Konzerne und Mittelstand zu Umsatz- und Ertragswachstum, Innovation und Marktführerschaft. Die frühere McKinsey-Beraterin ist seit vielen Jahren ausgewiesene Expertin für Unternehmenswachstum. Von Dr. Anja Henke erschien 2015 das Buch „Wachstum in gesättigten Märkten“ im Springer Gabler Verlag.
Zur Wissensplattform Jetzt anmelden